Auf dem ersten "Flüchtlingsgipfel" von AUF Gelsenkirchen leitete Monika Gärner-Engel, Stadtverordnete für AUF Gelsenkirchen, die spannende Diskussion mit einer Bestandsaufnahme ein:

"Liebe Besucherinnen und Besucher!

Diese Woche häufen sich ja die Flüchtlingsgipfel! Eine Krisensitzung der Bundesregierung jagt die andere. Die "Flüchtlingsfrage" hat die Bundesregierung in eine offene Koalitionskrise gebracht. Im Bundestag wurde letzte Woche ein äußerst reaktionäres Gesetzespaket durchgepeitscht. Es trat sofort in Kraft.

Wir betreiben eine andere Art von Flüchtlingsgipfel! Uns geht es darum, dass die Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchener, die Migranten die schon länger hier wohnen und die Flüchtlinge zusammenfinden und gemeinsam solidarisch leben, kämpfen und feiern.

Mein Name ist Monika Gärtner-Engel. Seit 16 Jahren bin ich Stadtverordnete für das überparteiliche Wahlbündnis AUF Gelsenkirchen. AUF versteht sich als Sprachrohr. Ende November wird im Stadtrat ein neues Handlungskonzept für die Flüchtlingsarbeit beschlossen. Wie immer bespricht AUF seine Meinung mit den Betroffenen. Das wollen wir heute auch tun. Wir wollen die Lage der Flüchtlinge in Gelsenkirchen kennen lernen, über Ursachen diskutieren, Forderungen aufstellen und Aktivitäten besprechen.

Über 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Mit mindestens 2760 ertrunkenen Flüchtlingen wurde das Mittelmeer aufgrund der reaktionären Abschottungspolitik der EU zum Massengrab. Über 1 Million werden wahrscheinlich in diesem Jahr nach Deutschland kommen. In Gelsenkirchen werden bis zum Jahresende 2900 erwartet. Unter den gegebenen Bedingungen ist das eine sehr große Herausforderung. Trotz alledem ist das aber dennoch nur ein Anteil von 1,1 % der Bevölkerung mit 257.651 Bewohnern im Dezember 2014! Immerhin hatte Gelsenkirchen mal um die 400 000 Einwohner. Immer wieder wird geklagt, dass die Bevölkerung in Gelsenkirchen so stark abgenommen hat und zu alt sei, zu wenig Kinder geboren würde. Jetzt kommen sie! 40% der Flüchtlinge unter 18 Jahre. Das verjüngt Gelsenkirchen und kann uns nur erfreuen. Außerdem gibt es einen Leerstand von etwa 12.000 Wohnungen. Also nüchtern betrachtet fände auch noch eine weit größere Zahl von Flüchtlingen in Gelsenkirchen Platz, bereichert die Stadt durch die vielfältigen Lebens- und Kampferfahrung der Flüchtlinge, macht sie jünger und stärkt ihr Profil mit schon bisher 134 vertretenen Nationalitäten.

Trotzdem ist die Flüchtlingsfrage ein Sprengsatz! Aber das liegt nicht an den Flüchtlingen!! Kurz gesagt habe ich folgende Thesen, die ich heute mit euch diskutieren möchte:

Erstens: Tagtäglich werden neue Fluchtursachen durch die Herrschenden der Welt geschaffen – mit räuberischen Kriegen um natürliche Ressourcen, Macht und Einfluss, durch Umweltzerstörung, Armut, Perspektivlosigkeit oder politischer Unterdrückung. Daran sind die BRD und die EU kräftig beteiligt. Kanzlerin Merkel hat es in den letzten Jahren immer wieder geschafft, Konflikte ab zu dämpfen. Unter dem Druck der Solidaritätswelle kippte sie zeitweilig das zuvor wesentlich von Deutschland forcierte Dublin Abkommen. Flüchtlinge mussten nicht im Ankunftsland der EU bleiben, sondern konnten direkt nach Deutschland kommen. Daraufhin gab es ein Riesengeschrei vor allem aus der CSU, aber auch der CDU. Inzwischen unterstützt vom Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Industrie, Ulrich Grillo, betont die Kanzlerin jedoch weiterhin: es kann keine Begrenzung im Asylrecht geben.

Gleichzeitig war die Kanzlerin federführend in der Ausarbeitung der soeben verabschiedeten stark verschärften Asylgesetze. Die Koalitionsparteien CDU, CSU und SPD sind sich im Grunde in wesentlichen Punkten einig und die Differenzen zwischen Transitzonen (CDU/CSU) und Begrüßungszentren (SPD) sind in der Realität gering. Abgelehnte Asylbewerber sollen schnell abgeschoben werden. Weitere Länder wie Serbien und Montenegro und Albanien werden zu "sicheren Herkunftsländern" erklärt. Für den schnellen Abtransport einer Masse von Menschen stehen sogar Bundeswehrmaschinen zur Verfügung! Wenn wir Flüchtlingspolitik machen, müssen wir uns über die Fluchtursachen schlau machen und sie bekämpfen.

Eine Kommune kann schwerlich weltweite Fluchtursachen beheben – doch viele Gelsenkirchener schauen über den Tellerrand hinaus! So wurden von Gelsenkirchenern auf eigene Initiative bedeutende Aktivitäten gestartet wie die Ärzteinitiative und die Entsendung von ICOR-Brigadisten nach Kobane. Alle Achtung! Aber der Antrag von AUF Gelsenkirchen im Stadtrat nach einer Städtepartnerschaft mit Kobane wurde von den etablierten Parteien glatt abgelehnt.

Zweitens: die neuen Asylgesetze sind eine massive politische und wirtschaftliche Verschärfung. Sie provozieren gezielt Spaltung zwischen Deutschen, länger hier lebenden Migranten und Flüchtlingen. Sie ruinieren die Kommunen und werden zu einer erneuten offenen Krise der Kommunalfinanzen führen. Wieder einmal bürdet der Bund die Lasten ebenso wie die Kosten den Kommunen und damit der Masse der Bevölkerung auf. Die kommunalen Aufwendungen für Flüchtlinge stiegen sprunghaft an, im 1. Halbjahr um 70% auf 1,2 Mil­liarden Euro. Für Gelsenkirchen wird ein Eigenanteil von 9,3 Millionen Flüchtlingskosten prognostiziert. In einer Stadt, die in den so genannten "Stärkungspakt" eingebunden ist, bedeuten mehr Ausgaben immer Streichung an anderer Stelle. Ein Abbau sozialer Errungenschaften kann überhaupt nicht akzeptiert werden! Er wäre nur geeignet, die Gelsenkirchener gegen die Flüchtlinge aufzubringen. Immerhin gibt es in Gelsenkirchen nach der offiziellen Statistik 23592 Arbeitslose, davon 19.548 Langzeitarbeitslose. Gemeinsam müssen wir um mehr Arbeit- und Ausbildungsplätze kämpfen, für den Erhalt des Asylrechts für alle Demokraten, sowie die hundertprozentige Kostenerstattung für Flüchtlinge durch den Bund.

Drittens: Um die "Flüchtlingsfrage" polarisiert sich die Auseinandersetzung in der Gesellschaft. In diese polarisierte Auseinandersetzung müssen wir voll hineingehen und nicht versuchen, dem auszuweichen. Auf der einen Seite gibt es eine riesige Welle der Solidarität. Auf der anderen Seite hat es allein in diesem Jahr bisher 500 faschistische Anschläge auf Flüchtlinge und Flüchtlingswohnheime gegeben. Jede Woche mit riesiger Medienbegleitung Aufmärsche wie die der faschistoiden Pegidas. Faschisten kriechen aus ihren Löchern. Am vergangenen Samstag wollten erstmals seit langem Faschisten in Gelsenkirchen ein Autokorso und einen Infostand machen. Ein Korso kam allenfalls zu Stande, weil das einzige Auto der Faschisten von zwei Polizeiautos eskortiert wurde! Den 6 Faschisten standen über 50 Antifaschisten gegenüber. Sie haben lebhaft und erfolgreich demonstriert.

Aber man darf die Gefahr nicht unterschätzen. Es gab in Gelsenkirchen mehrere Angriffe auf Antifaschisten wie Heike und Andreas Jordan. Auch der Anschlag auf die die neue Oberbürgermeisterin und frühere Gelsenkirchener Sozialdezernentin, Frau Reker, mahnen zur Wachsamkeit. Wir müssen voll hineingehen in diese polarisierte Auseinandersetzung und uns positionieren. Das Bündnis gegen Faschismus und Krieg, die bisher breiteste gemeinsame Aktivität der letzten Jahre am 1. Mai mit der erfolgreichen Verhinderung des Marsches der Partei Die Rechte" - auch hier zeigt Gelsenkirchen Flagge.

Viertens: Gelsenkirchen hat bereits eine Tradition, offen und solidarisch mit Flüchtlingen umzugehen. Ist Gelsenkirchen doch selbst groß geworden durch Migration! Das ist Grundhaltung und auch verbreitete Alltagspraxis unter den Gelsenkirchenern. Diese Position ist auch in der Stadtverwaltung und auch bei Kommunalpolitikern weit verbreitet. Schon vor zwei Jahren hat Frau Welge das Konzept der Willkommenskultur entwickelt - lange bevor der Begriff zur peinlichen Phrase von Frau Merkel wurde. Meiner Meinung nach ist auch das jetzt vorgelegte Handlungskonzept in den Grundzügen von Respekt und großem Bemühen um die Herausforderung geprägt.

Bemerkenswert ist darin auch die Akzeptanz von verschiedensten Fluchtgründen und aus den verschiedensten Herkunftsländern (aus „Kriegs- und Krisenregionen, Krieg, Menschenrechtsverletzungen, wirtschaftlicher Auswegslosigkeit, Zerstörung der Existenzgrundlagen, Angst vor Verfolgung) “ - ohne Unterscheidung in „berechtigte“ oder „unberechtigte, weil aus „sicheren Herkunftsländern kommend. Richtig ist auch, dass der dezentralen Unterbringung von Flüchtlingen Vorrang gegeben und dafür schon Hunderte Wohnungen angemietet wurden.

Doch die Ressourcen, die die Stadt insgesamt zur Verfügung hat sind lächerlich - und der Protest dagegen aus der etablierten Politik ist zahnlos, jämmerlich und inkonsequent. Da sich die Politiker der etablierten Parteien jeder ernsthaften Kritik an ihren Bundesparteien enthalten wird das Ganze im Desaster enden. Das erleben wir doch bereits in der realen Situation in den Unterkünften! Es sollen ab 2016 670 Euro pro Flüchtling für Unterbringung und Verpflegung gezahlt werden. Als angemessenen Beitrag zu den Kosten rechnete OB Baranowski selbst 1125 Euro pro Kopf aus. Also werden nicht einmal 60 % erstattet, selbst wenn das Land wie versprochen alle Gelder zu 100 % weiterleitet. Und wer bezahlt den Rest? Wovon sollen Sprachkurse, Betreuung, Verbesserungen der Infrastruktur, Qualifizierungsmaßnahmen usw. finanziert werden?

Über Nacht konnten 2008 500 Milliarden Euro in die Rettung europäischer Banken gepumpt werden. Aber Flüchtlinge sollen in einem der reichsten Länder der Welt nicht menschenwürdig leben können? Ebenso wie in der Weltwirtschaft- und Finanzkrise: die Verantwortlichen müssen zur Kasse gebeten werden, Konzerne, Banken, die Reichen ….

Die Leisetreterei und antikommunistisch motivierter Parteiegoismus führten zum Beispiel dazu, dass mein Antrag nach "hundertprozentiger Erstattung der Kosten für Flüchtlinge durch den Bund“ einhellig von CDU, SPD und Bündnisgrünen abgelehnt wurde. Ausgehend vom heutigen Treffen müssen wir unbedingt die Positionen und Forderungen von AUF - nicht zuletzt noch für die laufende Haushaltsdebatte – präzisieren. Entscheidender Ort der Durchsetzung ist jedoch nicht der Stadtrat, sondern der gemeinsame Kampf!

Die neuen Gesetze können auch eine massive Verschärfung des politischen Klimas in Gelsenkirchen allein schon an der Abschiebefrage bedeuten. In Gelsenkirchen waren im September 2015 24 % der Flüchtlinge aus Serbien, 20% aus Albanien, 10% aus dem Kosovo, 8% aus Syrien, Arabische Republik, 6% aus Makedonien, 6% aus Irak sowie 26% „sonstige Nationalitäten“ (Statistik der Stadt, Handlungskonzept Seite 11).

Wenn man von der niedrigeren Annahmequote der Asylanträge aus diesen Ländern (ca. ein Prozent) ausgeht dann könnten zusammen ca. 700 Menschen von Abschiebung bedroht sein! Nach dem neuen Asylgesetz sind bei Abschiebungen Vorankündigungen nicht mehr erlaubt. Man kann sich ausmalen, welch Angst und Schrecken dies für die betroffenen Familien bedeutet. Dieser menschenverachtenden Abschiebepolitik müssen wir in Gelsenkirchen entschiedenen Widerstand entgegensetzen. Hier muss es heißen: einer für alle und alle für einen!

Es müssen dringend mehr Stellen geschaffen werden – das wäre auch ein Beitrag gegen die Massenarbeitslosigkeit in GE. Schon ohne Flüchtlingsproblematik waren die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stadt (Gelsendienste, Erzieherinnen, Sozialarbeiter usw.) enorm angespannt. Ganze 1,5 Stellen gibt es beim Stab für Flüchtlinge, insgesamt ganze zwei Sozialarbeiter.

Die gesundheitliche Versorgung darf sich nicht auf akute Erkrankung und empfohlene Schutzimpfungen bzw. Früherkennungsuntersuchungen beschränken, wie es im Handlungskonzept notgedrungen akzeptiert wird. Notwendig ist die Einführung einer Gesundheitskarte bundesweit für alle kranken Flüchtlinge und vom Bund voll finanziert – anstatt wie bisher von den Kommunen.

Frauen und Mädchen auf der Flucht – oft mit Gewalterfahrungen und traumatisiert - müssen besonders geschützt und ihre Rechte gefördert werden.

Liebe Freundinnen und Freunde!

Im Zusammenschluss gegen die reaktionäre Flüchtlingspolitik schaffen wir eine neue Kultur der internationalen Solidarität in Gelsenkirchen.

Ich wünsche uns allen heute Abend eine lebendige Diskussion mit regem Austausch aller Erfahrungen und Vorschlägen zum gemeinsamen Vorgehen."