Professor Roland Günter zur Bedeutung des Volkshauses bei 2. Runden Tisch

Sehr geehrte Damen und Herren, Mitstreiter und Mitstreiterinnen,

imagesdas Volkshaus ist einer wichtigsten historischen Orte der sozialen Bewegung. Die meisten Volkshäuser dienten nicht einer bestimmten Partei, sondern waren Einrichtungen für das gesamte Volk d. h. für jedermann. Dies hängt auch mit der Geschichte der Sozialdemokratie zusammen, die unter Bismarck weitgehend verboten war. Sie mußte verdeckt operieren – das hieß: sich als etwas allgemein Nützliches aufstellen, das man schwierig antasten konnte. So entstanden Mehrzweck-Gebäude. Der Kern war meist eine Gastronomie, oft mit einem großen Biergarten, und Säle für allerlei Veranstaltungen.

Wir haben im Ruhrgebiet nahezu alle historischen Orte der sozialen Bewegung verloren. Es gehört zur Schwäche der sozialen Bewegung, daß sie ihre Orte bagatellisierte und sie sich leicht aus der Hand nehmen ließ. Wegen dieser herben Verluste ist das Volkshaus Rotthausen eine Ikone von ganz besonderem Wert – einzigartig im Ruhrgebiet, ja in ganz Nordrhein-Westfalen. Es gibt im Bundesland nur noch dieses Volkshaus. Rotthausen war einst selbständige Bürgermeisterei.

Der Industrieort wurde 1924 in Gelsenkirchen eingemeindet. Das Volkshaus Rotthausen entstand 1920 im Zug der Neuorientierung nach dem 1. Weltkrieg, in der Revolution, die das Kaiserreich mit seinem autoritären System beseitigte und die Demokratie einführte. Es war Symbol des ersten hoch bedeutenden Auftritts der sozialen Bewegung: ein öffentliche Zeichen dafür, daß es das Volk gibt und daß es zum ersten Mal ein öffentlichesGebäude besitzt - als ein Forum für seine vielfältige Existenz.

Man kann dies nicht hoch genug einschätzen. In dem größten Bereich Europas an Arbeit und Industrie ist es das erste Mal, daß eine breite Arbeiter-Bevölkerung den Anspruch auf öffentliche Präsenz in Formeiner Bauikone stellt – zudem mit künstlerischer Gestaltung. Zu diesem Wert kommt hinzu, daß das Volkshaus von einem der bedeutendstenArchitekten der 1920er Jahre entworfen wurde: von Alfred Fischer.

Es dauerte in der Nachkriegszeit mehr als 30 Jahre, bis der Wert des Volkshauses Rotthausen gewürdigt wurde. Es kam erst 1986 auf die Denkmäler-Liste. Ich denke, daß auch heute noch viele Menschen seinen Wert ignorieren oder bezweifeln. Im Ort Rotthausen hat sich jedoch ein gutes Bewußtsein weitgehend durchgesetzt und gefestigt. Die Volkshäuser waren immer Mehrzweck-Gebäude. Häufig übernahmen sie auch Funktionen eines Rathauses, so in Rotthausen.

Das umfangreiche Gebäude wurde 1987/1989 saniert. Es nahm auch das Stadtteilarchiv mit seiner Bergbau-Sammlung auf, das ebenfalls aus
der Bevölkerung heraus entstand und getragen wird, vor allem von Karl Heinz Rabas. Der SPD-Ortsverein hat in diesem Gebäudee seinen Sitz. In Zentral-Italien gab es Jahrhunderte lang eine Kultur der Anwälte des Volkes mit einem eigenen Gebäude. Dies ist die Wurzel der Volkshaus-Bewegung.

Die beste Zeit hatte sie in Italien, vor und nach Mussolini. Nahezu jeder Ort hatte sein Volkshaus. Mit dem Verfall dersozialen Bewegung wurden viele Volkshäuser geschlossen. Ich habe viele Jahre häufig bei Parma in der Stadt Busseto, in der der Opern-Komponist Giuseppe Verdi wirkte, nahe seinem Geburtshaus übernachtet: im Volkshaus, das zum Hotel umgewandelt war.

In Deutschland gingen eine Anzahl Volkshäuser gingen aus Gewerkschaftshäusern hervor (1907 Düsseldorf; 1910 Hannover; 1905 Leipzig; 1925 Erfurt; 1928 Bremen; 1930 Riesa). Zittau entstand 1857. Andere waren Vereinshäuser der SPD (1906 Halle; 1907 Gotha). Das Volkshaus Jena wurde 1903 von der Carl-Zeiß-Stiftung gebaut. Die KPD errichtete 1930 das Volkshaus Leverkusen. Ein Industrieller baute 1925 das „Haus des Volkes“ in Probstzella. In Linz gibt es heute noch das Volkshaus Dornach-Auhof. Die Schweiz hat einige Volkshäuser, u. a. in Basel, 1910 in Zürich, 1914 in Bern.

Nur wenige Volkshäuser überlebten. Auch aus diesem Grund ist das Volkshaus Rotthausen besonders kostbar. Seine Inneneinrichtung ist weitgehend erhalten. Besonderen Wert hat die (rekonstruierte) Eingangs-Szenerie. Wer in Rotthausen meint, daß die Finanzen zur Erhaltung nicht zu stemmen wären, der sei an Folgendes erinnert. Der ehemalige Gelsenkirchener Oberbürgermeister Oliver Wittke hat als Bauminister als eine Art Wiedergutmachung für seine Fehler am Hans Sachs-Haus für die Restaurierung der Marler Schule des berühmten Architekten Hans Scharoun 9 Millionen Euro öffentliche Mittel gegeben. Aus dem Städtebau-Topf.

Nun stellt seit kurzer Zeit Gelsenkirchen mit seinem ehemaligen Bauchef von der Mühlen den Staatssekretär im Bauministerium des Landes. In dieser Funktion müßte es ihm gelingen, die Mittel zur Erhaltung des hoch bedeutenden Volkshauses Rotthausen aus dem Städtebau- Etat zu bekommen.

Es ist für Rotthausen offensichtlich sowieso eine städtebauliche Maßnahme geplant. Das Volkshaus ist nicht nur eine Architektur-Ikone, sondern auch städtebaulich wichtig: durch seine Multifunktionalität in sozialkultureller Funktion für den gesamten Stadtteil: Als (einzige) markante bauliche Identifikations-Gestalt. Als Unterkunft für viele Vereine. Als Forum.

Das Volkshaus ist Ausdruck der gesamten sozialen Bewegung. Dazu gehören auch die Gewerkschaften. Die soziale Bewegung ist pluralistisch. Sie besteht aus vielen Zweigen. Daher sollen sich nicht einzelne Bereiche über das Volkshaus streiten. Wer auch immer sich in irgendeiner Weise zur vielfältigen sozialen Bewegung zählt, soll das Volkshaus auch als seine Sache erkennen und sich gegenüber dem kostbaren historischen Erbe verantwortlich fühlen.